Seitdem Brigitte ihre Tageslichtlampe hatte, war sie nicht nur wacher, sie war… aufgeladen. Die 78-jährige Dame, die früher ihre morgendliche Zeitung mit der Bedächtigkeit eines Faultiers im Halbschlaf las, tigert nun bereits um 6 Uhr morgens durch die Wohnung. Ihr Kanarienvogel Hansi, früher ein Gelegenheits-Trällerer, glaubte mittlerweile, er lebe in den Tropen und versuchte sich an Arien, die einer ausgewachsenen Operndiva zur Ehre gereicht hätten.
Das Problem war nicht Hansi. Das Problem war Frau Knoop von gegenüber.
Frau Knoop war die selbsternannte Quartiers-Wachtmeisterin, und ihre Spionagezentrale war ein Erkerfenster mit einem bestens geölten Fernglas. Seit Wochen notierte sie in ihrem kleinen Buch: „06:03 Uhr. Grelles, unnatürliches Licht bei Brigitte. Verdacht auf geheimen Algen-Anbau für die Kosmetik-Industrie.“
Eines Morgens sah sie Brigittes Schatten vor dem gleißenden Licht wild gestikulieren. In Wahrheit machte Brigitte nur ihre neuen Yoga-Übungen („Der fröhliche Kranich“), aber für Frau Knoop sah es aus wie die Beschwörung intergalaktischer Wesen.
Der Verdacht verhärtete sich. Sie rief Herrn Meier aus dem ersten Stock an. „Günther, bei Brigitte ist was faul! Jeden Morgen dieses Licht! Und heute hat sie getanzt wie eine Voodoo-Priesterin!“
Herr Meier, ein Mann von pragmatischer Natur, hatte eine andere Theorie. „Unsinn, Elsbeth. Die hat sich so ein Heim-Solarium angeschafft. Die will im Sommer am Strand von Laboe nicht aussehen wie ein Gouda.“
Die Gerüchteküche brodelte. War es ein Solarium? Züchtete sie seltene Orchideen? Oder war es, wie der junge Mann aus der WG im Dachgeschoss vermutete, ein Portal, das direkt mit dem Server eines Online-Computerspiels verbunden war?
Der Höhepunkt war erreicht, als Jonas, Brigittes Enkel, ihr ein Paket von „Tageslichtlampen24.de“ lieferte – eine zweite, kleinere Lampe für die Küche. Für Frau Knoop war der Fall klar: Brigitte expandierte ihr illegales Imperium.
Es half alles nichts. An einem Sonntagnachmittag versammelte sich eine kleine, besorgte Delegation unter Frau Knoops Führung vor Brigittes Tür. Als Vorwand hatten sie einen Apfelkuchen dabei.
Brigitte öffnete schwungvoll die Tür, strahlend und energiegeladen. „Ach, wie nett! Kommt doch rein!“
Misstrauisch betrat die Gruppe die Wohnung und erstarrte. Da, im Wohnzimmer, stand die Quelle des Lichts. Kein Portal. Kein Solarium. Keine Algenfarm. Nur eine elegante, schlanke Lampe neben einer Kaffeetasse.
Frau Knoop starrte das Gerät an, als könnte es jeden Moment angreifen. „Und… das… das ist alles?“, stammelte sie und deutete mit zittrigem Finger auf die Lampe.
Brigitte schenkte ihr ihr strahlendstes Lächeln. „Ja, meine kleine Sonne! Wunderbar gegen den Winterblues. Aber seien Sie vorsichtig, wenn Sie sich auch eine anschaffen.“ Sie zwinkerte verschwörerisch. „Sonst denkt die Nachbarschaft am Ende noch, Sie eröffnen ein Filmstudio!“
Brigitte und die Tageslichtlampe.
Brigitte ihr Bruder Thomas und die Tageslichtlampe.
Brigitte ihr Wellensittich Hansi und die Tageslichtlampe.
Brigitte ihre Guppys und die Tageslichtlampe.
Brigitte ihre Pflanzen und die Tageslichtlampe.
Brigitte ihr Enkel Jonas und die Tageslichtlampe.